Der Alki ist gesprächs-breit

 Kaum hatte ich mich zu dem etwa 50-jährigen Mann mit der verlotterten Visage gesetzt, begrüßte er mich mit einem herzlichen „Servus und Guten Morgen!“. Es war, als hätte ich mich im Kreisverwaltungsreferat an den Schreibtisch eines Beamten gesetzt, der mich dem allgemein gültigen Hoflichkeitsusus entsprechend ganz selbstverständlich begrüßt - so hieß mich der Mann auf seinem sonst leeren Vierer willkommen.

Es war neun Uhr morgens. "Einen Kleinen werd ich mir mal genehmigen, ist doch so ein schöner Tag heut", sagte er und holte eine Null-Zwei Jägermeisterflasche aus einer Plastiktüte, die neben ihm auf der Sitzbank lag. Nachdem er den Deckel abgeschraubt hatte, warf er ihn sogleich in den Mülleimer. Dann blickte er andächtig auf das Fläschchen, lächelte es an, wie ein Vater seinen kleinen Sohn anlächelt, wenn er denkt: "Hach, mein Söhnchen, wie schön das Du auf der Welt bist", und nahm den ersten Schluck. Er machte das "Aaah!", wie man es macht, wenn ein stark durstender Hals endlich mit Flüssigkeit benetzt wird und sagte: "Is doch was feines, so ein kleines Likörchen! – Auch ein Schlückchen?" Ich lehnte dankend ab, das Gebiss des des Mannes glich dem eines Skorbut gebeutelten Piraten.

"Seit neun Jahren wohn ich ja nun schon in Kieferngarten", sagte er mit diesem "ja", das so tut als wäre das Erzählte allgemein bekannt. "Ja, stimmt", antowortete ich, "da ist es ja auch schön". "Ja, und im Heim hab ich seitdem ja auch nicht mehr gewohnt, nicht wahr?" "Nee, bestimmt nicht".

Er nahm einen weiteren Schluck aus der Pulle, guckte sie wieder verliebt an, sagte: "Bier trinken kannste ja auch am Buß- und Bettag", und kicherte. Er war ein gut gelaunter Alkoholiker. Er sagte, er wolle jetzt ja auch mal wieder für eine Woche arbeiten, dann gehe es ihm noch besser. Auf die Frage, was ich denn so arbeite, sagte ich "Kommunikationswissenschaften" und er kommentierte fröhlich: "Ach ja, das ist doch mit Elektrotechnik, das wird immer gebraucht."

Er hielt mir erneut den Jägermeister hin, ich lehnte ab und er fragte: "Trinkst Du eigentlich Bier?" Ich dachte es sei ein grundsätzliche Frage, also antwortete ich mit "Ja, ab und zu."

Doch der Mann sah seine Chance gekommen, mich mit ins Alkoholboot zu ziehen. Er kramte in seiner Plastiktüte, holte eine Halbliterflasche hervor und hielt sie mir hin. "Nee, danke, aber hab grad keine Zeit für ein Bier", entschuldigte ich mich. "Ja, das muss ja auch nicht jetzt sein, nimm's für später, schmeckt ja auch später noch", sagte er und hielt mir die Flasche sehr dicht hin.

Seine Hand und sein Unterarm zitterten erschöpft, lange hätte er die Flasche nicht mehr halten können, also nahm ich sie ihm ab. Die anderen Leute schielten schon oft genug zu uns herüber, einen Bierflaschensturz mit entsprechender Null-Fünf-Pfütze auf dem Boden hätte ihre Vorurteile über Alkis und kaputte Jugendlich nur unnötig bestätigt.

Ich legte die Flasche neben mich auf den Sitz. Oettinger. Export. "Die musst Du aber auch einstecken", sagte der Alki, "wär doch Schade um die Sache". Am Marienplatz stieg er aus, er sei mit seiner Freundin verabredet, obwohl "die Weiber einem ja immer Bier und Schnaps verbieten".

Bis Poccistraße saß ich neben dem Oettinger, mir gegenüber seit Sendlinger Tor ein Geschäftsmann. "Kaputte Jugend", dachte der eventuell, als ich auffällig unauffällig die Pulle nahm und ausstieg. Ich musste zum Kreisverwaltungsreferat, einen neuen Perso beantragen. "Servus und Guten Morgen!", sagte dort der Beamte, nachdem ich mich gesetzt und das Bier auf den Schreibtisch gestellt hatte.

Kommentare

Denny am Fr., 01.12.2006 - 15:23

Schöne Geschichte, nett geschrieben. Der letzte Satz haut rein ;)

Klaus Feierabend am So., 03.12.2006 - 18:01

Alle Komplimente diesem klaren und unbestechlichen Fahrgastanalysator! Wir Regionalisten wünschen nur, dass er bald seinen vermausten Citytunnel verlässt, Weltbürgertum zeigt und sich auch mal um einen S-Bahn-Vierer kümmert (vielleicht in der reizvollen Variante der ab Puchheim nur fensterfernen Besetzung).

moscht am Di., 05.12.2006 - 16:55

hehe, sehr schön geschrieben :-)

wurde vor 2 stunden um zwei weisheitszähne erleichtert (18, 28), da kommt eine solche ablenkung von den schier unglaublichen schmerzen gerade recht ;-)

pommes38 am Sa., 16.12.2006 - 23:58

Diesmal mein Favorit: „Er machte das "Aaah!", wie man es macht, wenn ein stark durstender Hals endlich mit Flüssigkeit benetzt wird“.

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