Psychologie der Platzwahl

 Ich stand an der U-Bahn-Halte Studentenstadt und scannte wie üblich schon beim letzten Bremsen der Bahn die allgemeine Sitzplatzsituation in dem Waggon, in den ich gleich einsteigen würde: Wie in einer frisch aufgeforsteten Fichtenmonokultur war noch reichlich Platz für ein kleines Gebüsch wie mich. Nachdem ich die Tür geöffnete hatte, musste die konkrete Platzwahl innerhalb von Sekundenbruchteilen erfolgen. Schließlich wollte ich nicht wie ein Volltrottel aussehen, der im Eingangsbereich erstmal stehenbleibt und nach links und rechts guckt, um dann zu überlegen, wo es sich denn am besten sitzen würde. Aus den Augenwinkeln hatte ich mich für links entschieden. Die scheinbar völlig unüberlegte Platzwahl sollte die gewisse Souveränität eines alten U-Bahn-Hasen ausstrahlen, sollte meinen Mitfahrern sagen: "Ich nehm´s mit jedem Sitznachbarn auf!"

Ich schlenderte also nach links. Auf allen der vier Vierer waren noch je drei Plätze frei. Auf das natürliche Verlangen nach Invidualdistanz kann man sich bei der Platzwahl nicht berufen. Um weiterhin die Ich-nehms-mit-jedem-Sitznachbar-auf-Souveränitat auszustrahlen, kommen für die Platzwahl nur die ersten beiden Vierer in Betracht. Denn ein Vorbeigehen an ihnen zu den weiter hinten gelegenen Vierern hätte bedeutet, ich kusche vor den ersten beiden.

Hierzu ein Vergleich aus dem TIERreich: Hätte eine Gruppe Paviane in der Bahn gesessen, und wäre ein dominantes Männchen zugestiegen, es hätte sich einfach auf den erstbesten Platz gesetzt und der Nachbar hätte - je nach Geschlecht - das Männchen entweder angefangen zu lausen, oder ihm das rosa glänzende Hinterteil zur Kopulation angeboten. Nur Paviane niederen Ranges würden nervös um sich blickend durch die Sitzreihen schleichen, um den Platz ausfindig zu machen, auf dem es am wenigsten Kloppe gibt.

Ich hatte also nur noch die ersten beiden Vierer zur Wahl. Links saß ein Mann in Fahrtrichtung, nur von hinten zu sehen. Seine Fettmatte machte einen sympathischen Eindruck. Mehr Anhaltspunkte gab es nicht, denn es geht ja nicht, dass man von hinten an dem Mann vorbei geht, an seinem Vierer stehenbleibt, sich umdreht, ihm musternd ins Gesicht guckt, denkt "Nö, nicht so mein Sitznachbar-Typ", und sich dann auf den Vierer nebenan setzt. Das wär beleidigend.

 

Je nach Charakter würde er nur noch resigniert aus dem Fenster in die Dunkelheit starren und sich die den Kopf darüber zerbrechen, was er an sich ändern müßte, damit die freien Plätze auf seinem Vierer sich auch mal gegen die der anderen Leute durchsetzen. Oder er würde andauernd beleidigt herüber gucken: "Pöh! Du Blödmann, geh nur hin zu der Frau mit dem großen Busen, mir doch egal!". Oder er würde mit zusammengekniffenen Augen giftige Blickblitze schicken, einem hinterherstalken und schließlich ein für alle Mal Rache nehmen für die Beleidigung.

Also links saß die Fettmatte, rechts, gegen die Fahrtrichtung und mir zugewandt, eine Frau wie du und ich. Wäre ich ein Pavian unter Pavianen gewesen, hätte ich gedacht: "Hut ab, das Weibchen ist verdammt ranghoch, bestimmt eine der engsten Bräute des Don".

Immerhin fuhr die Frau freiwillig gegen die Fahrtrichtung. Da ich wie ein weicher Fuzzi dagestanden hätte, wenn ich mich in Fahrtrichtung auf ihren Vierer gesetzt hätte, wählte ich den Platz für die Harten: gegen die Fahrtrichtung und bei dem stinkenden Alkoholiker, wie ich beim Hinsetzen feststellte.

Kommentare

monrose am Sa., 25.11.2006 - 16:54

uah. in der ubahn neben einem alki. grausige vorstellung...

pommes38 am So., 17.12.2006 - 00:03

Noch ein Phänomen des Alltags treffend beobachtet. Spitze!

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