YEAH! YEAH! YEAH!

  Das Leben klingt scheiße. Zumindest nicht aufregend genug, dass es sich lohnen würde, es den ganzen Tag in voller Lautstärke zu hören. Also rein mit den Stöpseln und Mucke aufgedreht! Die Fahrt mit der U-Bahn ist doch eine ideale Möglichkeit, Musik zu hören. Außerdem erhöhe ich so den Nutzwert des schnöden Transports und der dabei verbrauchten Zeit. Das Leben ist kurz, also: auf dass immer was passiert!

Langsam gehen nur die Alten und Arbeitslosen, in deren Leben es nichts zu passieren gibt – aber ich, der junge Mann von heute, schreitet zügig voran! Hab es zwar gerade nicht eilig, aber dabei darf ich keine Zeit verlieren! Es wartet das Erlebnis der U6! Eine Fahrt mit der U-Bahn ist aber leider normalerweise voll unkrass, da nur äußerst selten jemand eine Freak-Show abzieht, die es wert wäre, den Kumpels als krasse Story verkauft zu werden. Also pimpe ich meinen U-Bahn-Ride wenigstens akustisch.

Für einen iPod reichts bei der Unbezahltes-Praktikum-gebeutelten Generation ja immer noch irgendwie, ist ja auch eine Frage des Styles, für das iPhone verkauf ich notfalls auch eine Niere, also sitze ich mit den weißen Kopfhörern im Ohr in der Bahn und erwecke mit dem Rest der Bestöpselten den Eindruck, als lebten wir in einem sozialistischen Land, in dem es nur einen staatlichen mp3-Player-Hersteller gibt, die Weltpod AG.

Die Oma neben mir ist tierisch genervt, weil sie Flesh Storm von Slayer nur indirekt und ohne Bass als klirrendes Geschraddel ertragen muss. Statt der meditativ ständig wiederholten Worte "Bitte zurückbleiben!" und "U6 Garching-Forschungszentrum" schreit mir Sänger Tom Araya seine Wut direkt ins Hirn:

THE CAMERAS ARE WHORES!
FOR THE DAILY BLOODSHED!
LIKE A JUNKIE!
HUNGRY FOR A FIX OF ANYTHING!
THE MEDIA DEVOURS!
AND FEAST UPON THE INHUMANE!

Wenn die Oma nur wüsste, welch intellektuell anspruchsvollen musikalischen Inhalt ich mir da reinfahre – sie würde den Hut ziehen vor mir und Slayer!

Der Druck hält mich kaum noch auf der Bank, meine Beine zittern im Takt der Double-Bass. Meine Matte schwingt sich auf zu einem handfesten Windmill-Mosch. Der Deckel meines Luft-Gitarren-Koffers ist kaum noch zu halten! Er springt auf, die Schnallen fliegen der Oma um die Ohren!

YEAH! YEAH! YEAH! Slayer regiert! Slayer regiert mich, ich springe auf den Vierer, ein Bein auf der linken, eins auf der rechten Bank! "Na, hören sie mal!", lese ich der Oma von den Lippen ab, "Na, hören SIE mal!" schreie ich sie an und steck ihr einen Stöpsel ins Ohr! Kerry King legt ihr mit einem Speed-Gitarren-Solo die Dauerwelle flach, lässt ihr lila Haar erbleichen!

Mein Sitznachbar hat schon lange erkannt: Der hat Flesh Storm auf den Ohren! Er springt ebenfalls auf, und mit ihm der halbe Waggon! An der nächsten Halte huzeln die Alten verängstigt aus der Bahn, jetzt gehört sie uns Rockern ganz allein! Die Mädels greifen nach den Haltestangen und shaken drum herum, die Jungs legen Knee-Slides hin, bis die Jeans brennt!

Dann der marternde End-Refrain, die Luft riecht nach frischem Schweiß, die Köpfe rotieren, alle Hände zeigen mit gerecktem kleinen und Zeigefinger in die Höh, und – Aus. Patrice dudelt hauchzart auf der Intro-Gitarre zu Uncried, ich öffne die Augen. Die Oma neben mir fragt: "Na, junger Mann, kleines Nickerchen gemacht?" Ich nehme die Weltpod-Fake-Stöpsel aus dem Ohr. "Was? Jo, wie ein Junkie, hungry auf einen fix auf irgendwas", murmel ich. "Ja, ja, das kenn ich", sagt sie, "dann übermannt es einen manchmal einfach."

Kommentare

Jürgen Kerr am Do., 11.01.2007 - 22:06

Gut gesehen, geträumt und gebrüllt!
Langsam gewöhne ich mir mit meiner Jahreskarte am Herzen wenigstens den Ansatz eines analytischen Blicks an, wenn ich mich mit dem MVV-made Torpedo durch den Schotter schiessen lasse.

shorty am Mo., 22.01.2007 - 14:57

In der U-Bahn gilt ja grundsätzlich "Wer stehen bleibt verliert!" Da hilft das dröhnende Geschepper nur allzugut das unnötige störende Fussvolk auszublenden und schnell durch die unterirdischen Hallen zu huschen. Ach wie freu ich mich schon wieder auf die U2 und das chaotische Gekreische und Gefrickel von June Paik :)

Martina am Mo., 05.11.2012 - 17:59

Ein angenehm anmutender Traum! Wobei ich mich nicht unbedingt wohl dabei fühlen würde, gleich auf zwei meiner Sinne zu verzichten in der Münchner U-Bahn - zu viele Irre an jeder Ecke.
Widersprechen muss ich übrigens meiner/meinem Vorredner(in). Nicht wer stehenbleibt, verliert, sondern derjenige, der in den unvermittelt Stehenbleibenden hineinläuft und sich dann dessen Beschimpfungen anhören muss.

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