Tot oder lebendig

 Mit der U-Bahn durch den Tunnel oder mit dem Fahrrad durch den Englischen Garten? Hier ein Erfahrungsvergleich.

An der Uni sprudeln die Springbrunnen kalt und verlassen vor sich hin. Es ist kurz vor Mitternacht, nur vereinzelt düst noch ein Porsche über die Ludwigstraße. Die Luft ist klar, mein Kopf vom Alkohol benebelt. Kaum habe ich die ersten Stufen zum Tunnel betreten, riecht es nach U-Bahn. Lauwarm strömt mir die muffige Luft entgegen. Zickzack zickzack führt mich die Treppe tiefer in die Erde. Das Gemäuer ist mausetot, überall Ecken und Kanten. Organische Rundungen: Fehlanzeige.

Mit dem Fahrrad biege ich in die bucklige, von Schlaglöchern zerfressene Veterinärstraße ein. Die klare Winterluft saust mir um die Ohren. Am Eingang zum Englischen Garten steht verlassen und dunkel auf der rechten Seite der Kiosk, dann tauche ich ein in die Nacht. Meine Augen brauchen einen Augenblick, um die Pupillen auf Nachtsicht einzustellen. Der Mond ist nur eine schmale Sichel, ich schalte mein Dynamo ein. Sirrend schmiegt es sich an mein Vorderrad und schenkt mir einen kleinen Lichtkegel.

Der Bahnsteig Haltestelle Universität ist fast menschenleer. Eine Dreiergruppe besoffener Jungs kauert auf den Drahtsitzen. Die beiden außen sitzenden Jungs benutzen die Schultern des mittleren in Anlehnung an ein Kissen als Kopfablage. Die Säulen des Tunnels könnten an Stämme mächtiger Eichen erinnern, wären sie nicht knallorange gefliest. Davor liegt etwas Organisches: eine gelbe Lache Kotze. In einiger Entfernung geht ein aufgebrezeltes Mädchen nervös auf und ab. Es riecht nach den Ausdünstungen billigen Industriereinigers und elektrostatisch aufgeladenem Plastik. In zehn Minuten kommt die Bahn. Ich setze mich auf einen Drahtsitz, glotze eine Werbewand für Anwaltskanzleien an. In der Bewegungsstarre fühlt sich mein Hirn wie eine runde Kugel an, die sich auf einer Wassefontäne dreht und dabei wild auf und ab tanzt.

Im Englischen Garten strampel ich fleissig in die Pedale, ich höre nur das Ohrensausen des Fahrtwindes und das Surren des Dynamos. Ich kann einer Pfütze nicht ganz ausweichen, mein Vorderrad wird partiell nass. Mein Dynamo schaltet in den Disco-Modus. Kein Grip mehr an der nassen Stelle des Reifens. An aus, an aus, flackert mein Vorderlicht, groß klein, groß klein, flackern meine Pupillen. Ich blicke nach hinten, mein Rücklicht ist kaputt. Fast forward spule ich mich durch die Dunkelheit, auf der Suche nach der Stelle, wo ich zu Hause bin. Es ist kalt, die Luft riecht nach frostigem Grün. Die schwarzen Schattenrisse der laublosen Bäume fingern nach den Sternen.

Das Neonlicht schießt aus den Scharten der hässlichen Plastik-Deckenvertäfelung auf den Bahnsteig. Die Leisten sind schmutzig und vergilbt, Spinnen und Gewürm haben darunter ein Zuhause gefunden. Auf dem Gleisbett hetzt eine Maus umher, ihr Fell hat die gleiche Farbe wie die Schottersteine. Also doch etwas Leben im Tunnel. Die Anzeigetafel springt um und schon ist das Grollen des herannahenden Zuges zu hören. Das aufgebrezelte Mädchen steigt ein, die drei Besoffenen verpennen ihre Mitfahrgelegenheit.

Ich biege ein auf den geteerten Weg am Kleinhesseloher See, nehme Schwung und wuchte mich auf die Brücke über den Isarring. Der Verkehr unter mir fließt wie Wundwasser in einem Ratscher durch die grüne Haut des Englischen Gartens. Wie der bucklige Faden einer Narbe versucht die Brücke die Einheit des Grüns zu wahren. Ich lasse das Brummen der Autos hinter mir und tauche wieder ein in Dunkelheit.

In der U-Bahn sitzen vereinzelt Schnappsleichen und ein Geschäftsmann, dessen zersaustes Haar und schief gebundene Krawatte auf einen kürzlich erfolgten Besuch bei einer Geliebten oder Prostituierten hinweisen könnten. Es ist lauwarm, es riecht nach Plastik. Die Werbebanner unter dem Dach versprechen eine astreine Teppichreinigung und das spielend leichte Erlernen von Fremdsprachen. „Nächster Halt: Giselastraße“, murmelt der Fahrer müde.

Mein Körper hat sich an die Anstrengung gewöhnt, die Blutumverteilung lässt es nicht zu, dass ich mich mit den Problembereichen Kopf und Magen beschäftigen kann. Gleichmäßig hechelnd düse ich durch den Wald, zu meiner linken fließt eiskalt der Schwabinger Bach. Dann überquere ich ihn. Kein verunreinigtes Wundwasser, vielmehr das Gemeinschaftsblut des Ökosystems rauscht hier dahin. Auf der Wiese vor der Studentenstadt hüllen Nebelschwaden die frostigen Halme ein. Dann schlüpfe ich durch eine Pore hinaus in die verbaute Welt. Der graue Beton der Studentenstadt türmt sich akkurat vor mir auf. Zu seinen Füßen, auf dem Bürgersteig, tappst schniefend ein Igel umher. Ich halte an, der Igel auch. Ich stupse ihn an, anscheinend nicht stark genug, denn einrollen will er sich nicht. Stoischer Typ, wartet einfach ab, bis ich weiterfahre.

Bis auf das mechanische Fahrgeräusch ist es in der U-Bahn ruhig. Die wenigen Passagiere hocken passiv auf ihren Vierern und warten ab. An den Haltestellen zischt die Entriegelung der Türen zwar jedes Mal, aber keiner steigt ein oder aus. Beschleunigung, Ansage, Bremsung, Türzischen – unermüdlich im Wechsel. Die Zeit des passiven Transports ist verlorene Zeit.

Ich schließe mein Fahrrad an und gehe in die Wohnung. Sogleich fängt mein Körper an nachzuglühen. Mit leuchtend roten Bäckchen stehe ich im Bad vorm Spiegel und trinke gierig Wasser aus dem Hahn. Im Bett liegend fühle ich dem Alkoholrausch nach. Vergeblich – selten habe ich mich so lebendig gefühlt.

Wie ein Wurm kriecht die Bahn unter der Haut der Erde hervor und hält an der Studentenstadt. Vom Neonlicht des Waggons trete ich in das Neonlicht der Halte. Mein Kreislauf ist ob der plötzlichen körperlichen Anstrengung etwas überrascht, ziert sich, in Gang zu kommen. Ich trotte die Stufen zur Unterführung hinab und schleppe mich durch den grellen Werbetunnel. Wieder oben angekommen, erwartet mich der Schmutz der Welt: Zigarettenautomat, Litfasssäule mit mehr Werbung und brutale Schlagzeilen auf den Zeitungskästen. Beduselt schließe ich die Wohnung auf, putze kurz und mürrisch meine Zähne und falle wie tot ins Bett.

Kommentare

Bella am Fr., 15.12.2006 - 13:06

WOW!
Dein U-Bahn - Fahrrad Erfahrungsvergleich ist klasse ... kann ich komplett nachvollziehen.

pommes38 am Sa., 16.12.2006 - 23:39

Wow, ein perfektes Stimmungsbild! Auch wenn ich während meiner Rad-/U-Bahn-Fahrten noch nicht alles aufgesogen habe, was du aufgesogen und für diesen Vergleich verwertet hast, kann ich auf Grund der sehr lebendigen, plastischen Erzählung alles toll nachvollziehen!

Denny am Mo., 18.12.2006 - 08:01

Wenn es das Wetter zulässt bin ich auch lieber mit dem Fahrrad unterwegs. Dein "Zuhause-Ankomm-Gefühl" kann ich bestens nachvollziehen - so dient die Rückfahrt gleich als Ausnüchterung.

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