Früher habe ich gerne Flitze Feuerzahn gehört, die Hörspiele mit dem kleinen Drachen, der von seinen Eltern verlassen wurde, weil er keine Flügel hat und nur kleine Flämmchen aus nur einem Zahn speien kann. Flitze hat viele naive Kinder-Abenteuer erlebt, zusammen mit seinen Kumpels Rabe Raps, Hase Hurtig und Rehbock Renner. Und neulich stieg am Marienplatz einer zu, der, wenn er einer von Flitzes Kumpels gewesen wäre, Lars Lässig geheißen hätte.
Lars Lässigs Kapital war – genau: seine Lässigkeit. Lars war jedoch nicht einfach nur lässig, wie man es etwa nach einem guten Joint, Geschlechtsakt oder beiläufig in hohem Bogen eingeworfenen Hackbällchen ist. Lars war professionell lässig.
Die U6 hielt am Marienplatz, ich saß seit Sendlinger Tor drin und beobachtete nun das gewohnte Gewühl: Aus jeder Tür quollen mindestens 30 Leute und strömten pilzförmig wie das kleine Sahnewölkchen im Friesentee durch den Engpass jener 30 Leute, die reinwollten und keinen Zentimeter des Raumes hergaben, den sie sich schulternschlängelnd erobert hatten und von dem aus sie nun auf das Innere der U-Bahn lauerten (ab und an auch die Hälse nach innen reckend, um zu sehen, wie viele Leute da denn noch rauskommen).
Auch Lars Lässig beobachtete das Treiben von seinem Sitzplatz aus – er saß, beide Ellenbogen auf der Rückenlehne ausgebreitet, auf einer der breiten, silbernen Sitzbänke vor den großen Spiegeln auf dem Bahnsteig, hatte seine Beine ausgestreckt und auf Höhe der Füße überkreuzt. Bewegungslos wartete er ab, bis die Rauswoller sich mit den Reinwollern einig geworden waren, dann entkreuzte er gemächlich seine Beine, winkelte sie an und stellte sich drauf. Ohne einen Ruck, mit einer Bewegung, so leicht geschwungen, wie der Scheitel seiner Haarmatte.
Er flanierte zur U-Bahn, auf dem Weg dahin zupfte er seine halb schicke, halb rockige Lederjacke mit einem Zupf zurecht. Vor der Türschwelle hielt er kurz inne, guckte langsam nach links, guckte langsam nach rechts: Er war der einzige, der noch vor einer der 18 Türen des Zuges stand. Ennio Morricones „Spiel mir das Lied vom Einsteigen“ hätte den musikalischen Nagel der Szene auf den Kopf getroffen, dazu quietschend nach innen und aussen schwingende U-Bahn-Saloon-Türen, im Hintergrund ein über den menschenleeren Bahnsteig huschendes Tumbleweed-Knäul.
Lars Lässig war der coolste Einsteiger, den ich je gesehen habe. Genau in dem Moment, als er ganz easy den linken Fuß in den Waggon setzte, begann die Bitte-Zurückbleiben-Türschließ-Sequenz und als er den rechten nachzog, knallten direkt hinter seiner Ferse die beiden Türhälften zusammen.
Im Gang Stehen und sich wohlmöglich noch an einer Stange Festkrallen, das war nicht Lars Lässigs Ding. Der Waggon war gut gefüllt, die Sitzplatzlage aber nicht hoffnungslos – immer locker bleiben. Lars schlenderte mit Faultier-Geschwindigkeit und Silberrücken-Selbstsicherheit durch den Gang. Da saß eine Frau auf einem Vierer, die den Platz neben sich an ihre zwei Einkauftüten verschenkt hatte.
Doch war es nicht so, dass Lars Lässig diesen potentiellen Sitzplatz oder die Frau daneben hoffnungsvoll angeguckt hatte. Es war die Frau, die Lässigs Aura verspürt und ihn entdeckt hatte. Sie sah ihn an, er sie immer noch nicht und wie selbstverständlich räumte sie ihre Tüten weg. Lars Lässig glitt auf den freigewordenen Sitzplatz, wie Ahornsirup in die Waben einer Frischeiwaffel.
Während der Fahrt zeigte sich er sich äußerst bewegungsarm, das bringt das Lässigsein wohl so mit sich. Sein Blick streifte in Ruhe durch den Waggon und wenn die Flüssigkeit auf seinen Augäpfeln verdunstet war, kontrollierte er sogar den Blinzelreflex, indem er seine Lider bewußt langsam schloss und wieder öffnete.
An der Münchener Freiheit spielte sich dann erneut das übliche Einsteigen-Aussteigen-Gewühl ab. Lars Lässig saß mit gefalteten Händen auf seinem Platz und rieb genüsslich die Daumenspitzen aneinander, während er mit lässiger Verachtung die Hetze an den Türen beobachtete. Die Letzten schlüpften noch raus, da setzten die Ersten schon zum Sitzen an.
Als sich die Aufregung gelegt hatte und die Zugestiegenen auf ihren Steh- und Sitzplätzen zur Ruhe gekommen waren - erst dann, in der Ereignislosigkeit des stillen Abwartens aufs Losfahren (hier wäre wieder etwas Tumbleweed angebracht gewesen), war der Zeitpunkt für Lars gerade lässig genug, um auszusteigen. Er erhob sich, als flösse der Ahornsirup von der Frischeiwaffel zurück in die Flasche, Ennio Morricone ließ die Mundharmonika flimmern und die Saloon-Türen der U-Bahn – fielen direkt vor der Nase von Lars Lässig ins Schloss.
(Natürlich wurde das Schließen der Türen akustisch angekündigt, doch Lars Lässig blieb icecool als „Bitte Zurückbleiben!“ aus den Lautsprechern tönte und die Türen gestreßt piepten. Statt seine Maske fallenzulassen und gehetzt durch den immer schmaler werdenden Türspalt zu hechten, ließ er im Affekt nur kurz das Gesicht eines Faultiers auf der Flucht aufblitzen. Er ging weiter gemächlich auf die Tür zu, lehnte sich schließlich aber entspannt an die Wand, als sei es genau das gewesen, was er vorgehabt hatte, von wegen der Umweg ist das Ziel. Dass er eine Station zu spät ausstieg, gilt es zu vernachlässigen.)
Das Adverb womöglich steht für "vielleicht" und darf nicht mit der (getrennt geschriebenen) Wendung "wohl möglich" mit ähnlicher Bedeutung verwechselt werden. "Er kommt womöglich morgen." Aber: "Es ist wohl möglich, dass er morgen kommt." Abzugrenzen ist auch die Satzverkürzung "wo möglich" für "dort, wo es möglich ist": "Sparen, wo möglich, investieren, wo nötig."
http://www.korrekturen.de/beliebte_fehler/wohlmoeglich.html
Ansonsten: geil geschrieben. Du hast mich also beobachtet ;-)