Der Teetrinker

 Ich wartete an der Haltestelle Studentenstadt. Der Wind blies mir in kräftigen Böen feuchtkalte Luft ins Gesicht. Im Gleisbett klammerten sich Zigarettenstummel und Kaugummipapier zitternd am Schotter fest. Keine Maus flitzte dazwischen umher. Sonst lassen sich die kleinen Nager bei ihrer hektischen Nahrungssuche nicht mal von der einfahrenden U-Bahn beeindrucken (welch ein Getöse muss die tonnenschwere U-Bahn für das kleine Mauseohr bedeuten!) – doch heute suchten sie Schutz in ihren molligen Nestern in den Tiefen des Schotterlabyrinths.

Es kam eine nasse Neue. „Kann ich eigentlich von einem nassen digitalen Türöffner einen Stromschlag bekommen?“, fragte ich mich und dachte an ein U-Boot. Und an eine U-Bahn, die durch einen wassergefüllten Tunnel aus Korallen taucht. Eine U-Boot-Bahn. Mit einem Extra-Waggon nur für Leute mit Tauchschein, da sind dann die Fenster offen.

Ich setzte mich auf einen von den sandbraunen Dreiersitzen, die sich in sachte geschwungenem Bogen den Hintern der Fahrgäste anbieten. Links von mir saß eine aufgetakelte Alte, die ihre braune Handtasche auf ihrem Schoss mit beiden Händen fest umklammerte. Sie sah sich kurz an, wer sich da neben sie gesetzt hatte, sah einen Jugendlichen mit Kapuze, rückte von mir ab und zog die Handtasche tiefer in ihren Schoß.

Gegenüber saß ein Asiate, dem Alter und Einstiegsort (Studentenstadt) nach zu schätzen ein Student. Er diente treu und ergeben seinem Klischee, hatte schwarzes, glattes, halblanges Haar und eine Frisur wie ein Playmobil-Männchen, eine dicke Brille auf der flachen Nase und dahinter zwei Augen, in denen ich während der gesamten Fahrt (etwa 15 Minuten) keine Gefühlsregung entdecken konnte.

Und neben dem Asiaten saß das Leben. Neben dem Asiaten saß der Augenblick. Neben dem Asiaten saß der gelebte Augenblick. Der Mann war um die sechzig, hatte einen grauen Schnurrbart und viele kleine graue Bartstoppeln in seinem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht. Es waren aber keine Hängefalten wie bei Säufern, es waren paradoxerweise straffe Falten, das Echo seiner lebenslangen Mimik, das sich in seine leicht gebräunten Haut gezeichnet hatte. Auf seinem Kopf trug er eine dunkelbraune Baskenmütze, diese Art von Mütze, bei der der kleine Schirm unter einer großen Stofffalte liegt und bei der in der Mitte ein kleiner Filznippel nach oben absteht. Darunter guckte an den Seiten schlohweisses Haar hervor. Er sah mit seiner Weste und seiner fleckigen Cordhose aus, als hätte er Feierabend von einer handfesten Arbeit. Auf den Lippen des Mannes ruhte ein mildes Lächeln.

Und während der Asiate das Nichts zelebrierte und die aufgetakelte Alte ihrem Leben Aufregung verlieh, indem sie Angst um ihre Handtasche hatte, vergrößerte sich das Lächeln des alten Mannes – nur um ein Nuance, um eine Nuance Schelmenhaftigkeit. Er guckte auf seine einfache Sporttasche aus den Achtzigern, lächelte sie an und zog aus ihr ein Thermoskanne hervor. Eine wie sie bei Oma steht, weiß, bauchig, mit schwungvollen Linien auf der Plastikoberfläche und einem kleinen Ausgieß-Hebel am Deckel.

Und während der Asiate sich seine Zukunft als Studierter ausrechnete und die aufgetakelte Alte der Vergangenheit hinterher trauerte, in der ihre Handtasche noch sicher war, gab es für den alten Mann nur das Jetzt. Seinem kleinen U-Bahn-Jetzt zu Ehren veranstaltete er sogar ein kleines Fest: Er holte einen roten Plastikbecher aus seiner Tasche, goß sich einen Tee ein und setzte zu Trinken an. Doch er trank nicht. Stattdessen bekam sein Lächeln wieder diesen schelmenhaften Zug, er hielt den Becher in der einen Hand und holte mit der anderen eine angebrochene Packung Neapolitaner Waffeln aus seiner Tasche.

Dann tunkte er ein Stück der Waffel in den Tee, lutschte halb, kaute halb die weiche Masse ab und lächelte ein Lächeln, so süß und mild wie das Gebäck auf seiner Zunge.

Hätte der Asiate einen Moment die Beherrschung verloren, er hätte sich über sein ungenutzt vergehendes U-Bahn-Jetzt geärgert. Die aufgetakelte Alte hoffte, dass dieses Jetzt neben dem gefährlichen Jugendlichen ein möglichst kurzes sein und schnell vorüber gehen möge. Und während beide den wertvollsten Augenblick ihres Lebens nur ungeduldig absaßen, genoss der alte Mann den seinen in vollen Zügen.

Für ihn war es der ewige Tee. Die ewige Waffel. Das ewige Jetzt.

Kommentare

thfuegner am Mo., 08.01.2007 - 23:24

Keinesfalls porno!
Das ist feinstes tao.
von hier:
http://www.amazon.de/Wu-wei-Die-Lebenskunst-Tao/dp/3499619806/sr=1-1/qid=1168294801/ref=sr_1_1/028-8258787-3906918?ie=UTF8&s=books
mehr davon, ganz wunderbar!
TF

RamBam am Di., 09.01.2007 - 09:15

Ob Porno oder Tao - auf jeden Fall hat der U-Bahn-Blogger an mich gedacht und für mich wieder einen Schreibfehler rein"gesezt". Danke. Wenn ich mal nichts zu meckern hätte...

ricozerhoese am Mi., 10.01.2007 - 08:25

Schoen gesehen und aufgeschrieben, Dennis. Ich finds gut und wichtig immer fleissig das Jetzt zelebrieren.

Oder lieber das Jetzt dazu benutzen bloede Kommentare unter den U-Bahn blog zu setzen. So wie cohu, deren blog ich nach kurzem Besuch als nicht halb so witzig wie diesen fand. Etwas verkrampft eher.

Oder den Moment damit feiern andere auf ihre Schreibfehler aufmerksam zu machen. Naja, jeder hat ja seine eigenen Vorlieben.

peace

cohu am Mi., 10.01.2007 - 10:28

Nicht halb so witzig, um Gottes willen! Verkrampft! Werde Muskelrelaxans einwerfen, ab jetzt bevorzugt und unter Verwendung zahlreicher schiefer Metaphern über mein Sexleben schreiben und evt. sogar einige Schreibfehler einstreuen. Was tut man nicht alles für die Leser.
Aber - man merkt es schon - so lässig wie der U-Bahn-Blogger werd ich sicher nie! Der hat einfach den Direktdraht zum Gott Eros! :-)

Pastor Anke am Mi., 10.01.2007 - 23:45

@cohu: Nicht ärgern, es wird genug geben, die dein Blog zu schätzen wissen.

@ ricozerhoese:
"Witz ist Intellekt auf Reisen."

Oder halt auch nicht … gell.

ricozerhoese am Do., 11.01.2007 - 23:57

Bitte um Entschuldigung.

Wollte keinen wunden Punkt attackieren.
Ich hatte nicht geahnt, dass ich da gleich ins Wespennest stechen wuerde. Ich war davon ausgegangen, dass Kritik nicht nur fleissig ausgeteilt, sondern auch eingesteckt werden kann.

Daniel Schuhmann am Di., 16.01.2007 - 23:46

Ich liebe die U-Bahn-Geschichten, aber diese ganz besonders. Weiter so!

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